Ein Abenteuer ist – einfach los zu fahren.
Ich bin nun seit 4 Wochen hier in Taiwan – mit einem klaren Ziel: so viel wie möglich von dieser faszinierenden Insel mit dem Rennrad erkunden. Bisher hatte ich bereits an der KOM-Challenge teilgenommen, die Route von Yilan zum Wuling Pass befahren und beim Hualien Pacific Ocean Cycling Race teilgenommen. Am darauf folgenden, sonnigen Sonntagmorgen nach dem Rennen in Hualien, beim Frühstück – blauer Himmel, türkisfarbenes Meer – da kam mir dieser Gedanke. Warum nicht einfach heute starten, um die ganze Insel Taiwan zu umrunden. Ohne Zeitlimit. Sehen, was geht. Nehmen, wie es kommt. Nichts ist geplant, nicht wirklich vorbereitet – einfach machen, einfach los fahren 🙂
Ich fest davon überzeugt, dass echtes Abenteuer nur dann entstehen kann, wenn nicht alles bis ins letzte Detail durchorganisiert ist. Also packte ich das Nötigste in meinen Rucksack, das übliche Werkzeug für Ausflüge wie diese, zwei Schläuche, einen Reifen als Ersatz (immer eine gute Idee, wie sich später wieder gezeigt hat), meine GORE-TEX Shakedry (auch das hat sich später noch bewährt), ein zweites Trikot, offene Schuhe für den Abend, Zahnbürste, Zahncreme und meine Kamera. Die Lichter sind geladen und montiert und mein Cervélo S5 war bereit, ich war bereit. Route – einfach Richtung Süden fahren. Tagesetappen – mal sehen, was so geht. Ich wollte mich treiben lassen, von der Straße, vom Wind, vom Moment.
6 Tage, 1.050 Kilometer, 7.700 Höhenmeter

Es wurde eine Reise durch ein Land der Gegensätze: vom pulsierenden Verkehr Taipehs in die Stille der Berge, von traumhafter Natur im Süden, von langen, unscheinbaren Transitkilometern im Westen zu goldenen Stränden im Norden und atemberaubenden Küstenstraßen entlang des Pazifiks.
Jede Etappe hatte ihren eigenen Charakter – überwältigend schön, wild und anspruchsvoll, flach mit viel Wind, manchmal aber auch eintönig. Doch was diese Umrundung wirklich besonders machte, waren wieder die Menschen und die vielen spontanen Begegnungen. Mit einer Warmherzigkeit und Offenheit, die überrascht und berührt. Und mit jedem Kilometer wuchs das Gefühl, dieses Land ein Stück besser zu kennen – seine Ruhe, seine Energie, seine Widersprüche.
Diese Reise war mehr als Sport. Sie war eine Erinnerung daran, wie viel möglich ist, wenn man einfach losfährt – und sich täglich auf das einlässt, was kommt.
Tag 1: Hualien bis Taitung mit mächtig Rückenwind
Es war bereits Mittag, als ich mich in den Sattel schwang. Mein abstraktes Ziel – der Ostküste entlang in Richtung Süden. Die Insel umrunden, im Uhrzeigersinn. Ich hätte mir Empfehlungen einholen können, oder eine Route studieren. Erfahrungsberichte im Internet lesen, bla bla bla. Doch ich entschied mich bewusst dagegen. Stattdessen folgte ich meinem Instinkt und fuhr einfach los – startend in Hualien an der Ostküste auf dem Küsten-Highway 11. Außerdem kannte ich ja bereits die ersten 100 kommenden Kilometer von der KOM Challange und wusste ein wenig, was mich erwarten wird – ein paar Wellen mit Höhenmetern und eine wunderschöne Küstenstraße mit Blick auf den Pazifik in Richtung Süden.

Der Wind spielte mit. Viel Rückenwind, fast wie eine Einladung. Die Straße schlängelte sich entlang der Küste, vorbei an steilen Klippen und dem endlosen Blau des Pazifiks. Mein erster Halt: der Aussichtspunkt Baqi Gazebo. Hier traf ich auf zwei Bikepacker aus Denver, Colorado. Die beiden nehmen sich gerade 1 Jahr Auszeit und fahren mit dem Rad durch Asien. Wir tauschten uns ein wenig aus, über Taiwan, über unsere Routen, über das Leben auf zwei Rädern, sprachen über unsere Pläne und das es manchmal gut ist, eben keinen Plan zu haben. Sie waren mit voll beladenen Gravelbikes unterwegs, ich mit meinem Rennrad und einem leichten Rucksack. Und trotzdem verstanden wir uns als Gleichgesinnte. Ein Gespräch, ein gemeinsames Selfie zum Abschluss, ein kurzer Moment der Verbundenheit und dann trennten sich wieder unsere Wege.

Die Kilometer vergingen wie im Flug. Ich ließ mich treiben, genoss die Freiheit, die Geschwindigkeit, die Weite. Als ich Taitung erreichte, war es bereits dunkel. 5:46:50 Stunden im Sattel, 1.293 Höhenmeter in den Beinen – hier habe ich mich dann entschieden, zu übernachten. Alles war da, ein Hotel, eine Pizza, 1 Bier, eine Dusche, ein Bett. Kein Stress, kein Zeitdruck. Nur ich, mein Rad und die Gewissheit: Das war erst der Anfang, ich werde weiter fahren, um am nächsten Tag die südlichste Spitze von Taiwan zu erreichen.

Route Tag 1: Hualien bis Taitung / 166km – 1.293 hm


Tag 2: Taitung nach Kenting – lets go south!
Ich wachte gegen 5 Uhr erholt auf – oder zumindest so erholt, wie man sich um diese Uhrzeit fühlen kann. Mein erster Weg führte mich zu 7-Eleven, dem Herzstück taiwanischer Dienstleistungskultur. Diese Läden sind mehr als nur Supermärkte: Sie sind Tante-Emma-Laden, Café, Druckerei, Reisebüro und Treffpunkt in einem. Man findet immer einen, rund um die Uhr geöffnet. Hier gibt es eigentlich alles, was man braucht. Lebensmittel, Drogerieartikel, warme Teigtaschen, Hotdogs, frischen Kaffee, man kann sogar Zugtickets buchen, Pakete verschicken, Geld abheben oder einfach an einem der kleinen Tische sitzen und Leute beobachten, die sich zum Frühstück mit Kaffee treffen. Für Radfahrer wie mich sind sie eine Rettung – nie muss man sich Sorgen um Wasser oder Essen machen. Mit einem doppelten Espresso im Blut und 2 Croissants im Bauch startete ich in Richtung Südspitze Taiwans.

Die ersten 70 Kilometer waren ein Traum: Der Wind schob mich sanft nach Süden, als wolle die Insel mich belohnen. Doch dann zahlte ich den Preis für die Schönheit des Südens. Die Straße wand sich bergauf, die Höhenmeter summierten sich. Ich hatte mir zwar auf bikerouter.de und Strava mögliche Routen anzeigen lassen, aber alle schlugen mir nur Umwege vor – erst nach Westen zu fahren, dann wieder zurück. Klar, das hat natürlich seinen Grund. Aber nein danke. Ich entschied mich für meinen eigenen Weg: Highway 9 bis Daren, dann durch den Shuangliou National Forest auf den Provienzstraßen 199 und 200 in Richtung Manzhou.

Das war die beste Entscheidung des Tages, war aber auch anstrengend. 1.700 Höhenmeter an diesem Tag bei 30 Grad in der Sonne, Anstiege, die in den Beinen brannten. Doch mit jedem Meter stieg auch die Vorfreude. Plötzlich war ich mittendrin im Kenting National Park – grüne Dschungellandschaft, leere Straßen, eine Gruppe Affen im Feld, völlig unbeeindruckt von mir und das Rauschen des Winds. Und dann, kurz vor dem Kap Eluanbi, der Höhepunkt. Ein letzter, steiler Anstieg – und dann diese unglaubliche Aussicht! Die Küste, das türkisfarbene Wasser, die Klippen. Ich habe schon viele schöne Orte mit dem Rad erkundet, aber hier, an Taiwans südlichstem Punkt, stand die Zeit still für mich. Das hier ist etwas ganz Besonderes.




Nach der Abfahrt gab es nur einen Gedanken für mich – ab ins Meer, jetzt baden. Der Pazifik war die perfekte Erfrischung nach dem Tag in den Bergen. Als ich später auf einer Mauer saß und überlegte, wo ich heute Nacht schlafen würde – da tauchten auf einmal Kellie und Erica auf. Mit Kellie bin ich die KOM Challenge ein langes Stück gemeinsam gefahren, und habe in Hualien auch noch etwas Zeit mit ihm verbracht – ich mag ihn. Die beiden war bereits am Samstag in Richtung Süden gestartet, und jetzt trafen wir uns wieder, als hätte Taiwan uns wieder zusammengeführt. Sie fuhren weiter, ich blieb in Kenting Village, einem Ort, der trotz der Touristenmassen entspannt und angenehm lebendig wirkte. Street-Food-Stände soweit das Auge reicht, mittendrin mein Hotel. Bevor ich schlafen ging, noch ein Bier am Strand – ein perfekter Abschluss für diesen Tag.
Route Tag 2: Taitung bis Kenting / 168km – 1.736 hm


Tag 3: Kenting to Tainan – ja, der Wind …
Es begann mit Wind. Und es endete mit Wind. Ich erkannte, ab jetzt bis Taipeh ungefähr 450 Kilometer gegen eine unsichtbare Mauer fahren zu müssen. Ich hatte schon Geschichten über die Westküste gehört – von beständigem Gegenwind, der Radfahrer zur Verzweiflung treibt. Doch dass es so brutal sein würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Die ersten 25 Kilometer waren ein echter Kampf. Mein Tempo irgendwo bei 18 km/h. Mein Navi zeigte Windgeschwindigkeiten von bis zu 42 km/h – direkt aus Norden, als wolle die Insel mich zurück in den Süden pusten. Ich hielt an, checkte mein Handy, dachte, ich hätte wohl die News verpasst. Das ein Taifun im Anmarsch ist. Ich sah nur leere Straßen, als hätte jeder hier beschlossen, heute drinnen zu bleiben. 50 Kilometer lang fühlte es sich an, als würde ich auf der Stelle treten. Kein Vorankommen. Nur Widerstand.
Ich war ausgehungert, einfach nur leer, kurz davor, die Lust zu verlieren. Da stand ich vor einem 7-Eleven – und plötzlich erkannte ich zwei vertraute Räder – es waren Erica und Kellie. Die beiden, die ich schon gestern auf dem Weg getroffen hatte, als hätte das Schicksal uns zusammenführen wollen. Gott, was für eine Freude! Plötzlich war der Wind nur noch halb so schlimm.

Wir fuhren gemeinsam nach Kaohsiung, machten Pausen und genossen das entspannte Tempo. Für sie war es das Ende der Reise – von hier aus ging es für sie zurück nach Kanada. Ein letzter gemeinsamer Lunch, ein Abschied, der sich nicht wie einer anfühlte. “Das Leben geht oft überraschende Wege”, dachte ich. “Vielleicht sehen wir uns wieder – irgendwann.”
Nach 60 weiteren Kilometern erreichte ich Tainan, mein nun gesetztes Tagesziel. Nicht, weil Tainan so besonders war, sondern weil ich einfach nicht mehr konnte. Die Westküste hatte mich heute demütig gemacht – aber sie hatte mir auch wieder einmal gezeigt, wie viel kleine Glücksmomente wert sind. Keine spektakulären Landschaften. Keine großen Abenteuer. Nur der Wind, zwei Freunde und die Gewissheit, das manchmal das Beste an einer Reise nicht das Ziel, sondern die Menschen sind, die einem begegnen.
Route Tag 3: Kenting bis Tainan / 164km – 438 hm


Tag 4: Tainan to Taichung – stiller Rhythmus der Kilometer
„Heute werden einfach nur Kilometer gemacht.“ Der Satz ging mir durch den Kopf, als ich am frühen Morgen in Tainan meinen Kaffee trank. Mein Gastgeber hatte mir noch Routentipps gegeben – und gleich hinzugefügt, „Spannender wird es bis Taipeh nicht.“ Er sollte recht behalten.
Vor mir lag die Westküste Taiwans: kein spektakuläres Panorama, keine atemberaubendes Radfahren, sondern ein endloses Band aus Städten, Industrie, Verkehr und unzähligen Ampeln. Um der Langeweile zu entgehen verließ die Küste und schlug mich ins Landesinnere durch, Richtung Chiayi. Hier wurde es ruhiger und ich hatte zumindest Blick auf die Berge. Keine Postkartenmotive, keine großen Momente – nur Kilometer, die unter den Rädern verschwinden. Und natürlich der Wind, dieser unermüdliche Begleiter.
Das war ein Tag ohne Highlights, aber mit dem stillen Rhythmus des Unterwegsseins. Und manchmal ist das genau das, was man braucht. Warum dieser Tag trotzdem seinen Sinn hatte – manche Etappen sind kein Abenteuer. Sie glänzen nicht, sie fordern nicht, sie sind einfach nur ein Stück Weg, der zurückgelegt werden muss. Die Westküste ist kein Ort für Träume – sie ist pragmatisch, gerade, manchmal eintönig. Doch genau das machte diesen Tag auf seine Weise wertvoll. Der Kopf wurde leer. Die Gedanken kamen zur Ruhe. Es ging einfach nur darum, weiterzukommen. Nicht jeder Kilometer muss ein Erlebnis sein. Manche dienen nur dazu, sich ein Stück näher ans Ziel zu bringen, damit man am nächsten Tag wieder das findet, weshalb man überhaupt auf dem Rad sitzt.


Zusammenfassung dieses Tages
Westküsten-Realität statt Postkartenmotiv
Die Westseite Taiwans ist das industrielle Rückgrat des Landes. Das bedeutet, breite Straßen, Industriegebiete so unglaublich groß wie meine Heimatstadt. Immer viel geradeaus, viel Verkehr. Man fährt selten durch Orte, die einen landschaftlich packen. Es ist mehr eine „logistische Verbindung“ als eine Erlebnisroute.
Wenig Höhenmeter, wenig Abwechslung
Topografisch ist alles flach und leicht zu fahren – aber genau das macht es eben auch eintönig. Die Straße zieht sich, die Kilometer wirken länger, und immer mit heftigen Gegenwind.
Für viele Radfahrer nur ein Transitstück
Selbst taiwanische Randonneure sagen oft, dass sie die Westküste nur fahren, wenn sie müssen. Die „schönen“ Linien der Insel liegen im Osten oder im Zentrum. Die Tainan–Taichung-Etappe ist deshalb eher Kilometer machen, Kopf ausschalten, irgendwann ankommen.
Positiv formuliert:
Wenn man mal eine Etappe braucht, in der man einfach nur rollen will – ohne große Anstiege, ohne Navigation, ohne Stress – dann ist das die richtige. Aber es ist eben keine Strecke, die man wegen der Aussicht fährt.
Route Tag 4: Tainan bis Taichung / 165km – 771 hm


Tag 5: Taichung to Taipeh – the capital city is calling me
Taipeh – das hatte ich mir heute beim Frühstück als Ziel gesetzt. Und ich war froh, dass es wieder zurück in die Berge ging. Mehr Ruhe, mehr Natur, weniger dieser endlosen Stadträume, die sich wie zähe Kaugummistreifen ziehen. Aber zuerst musste ich erneut zwei Stunden durch den morgendlichen Stadtverkehr. Stop-and-go an unzähligen Ampeln, Rollerfahrer überall, die mit zehn Zentimetern Abstand rechts und links an dir vorbeiziehen. So ein Start in den Tag kann stark an die Nerven gehen. Also so schnell wie möglich raus aus der Stadt.
Meine zweite Frühstückspause machte ich genau dort, wo der erste Anstieg des Tages begann. Ein kurzes Gespräch mit einem Café-Angestellten hellte meine Stimmung sofort auf. Wir sprachen über meine Tour, ich erzählte von der Westküste, dem Lärm, dem Verkehr – und davon, wie sehr ich Taiwan trotzdem mag. Sein Satz “Don’t be afraid of Taiwan” wird mir noch lange im Kopf bleiben. Vor allem morgen, am letzten Tag entlang der Ostküste, dem berüchtigten Abschnitt auf dem Suhua Highway.

Die Etappe selbst war ein guter Tag im Sattel. Viel Sonne, zwei schöne Anstiege, einige Wellen, und natürlich auch dieser Wind, der mittlerweile einfach dazugehört 🙂 Je weiter ich nach Norden kam, desto deutlicher spürte ich die Nähe zu Taipeh. Nach knapp 120 Kilometern lag die zweite Spitze hinter mir, und ab dort rollte es sanft bergab Richtung Hauptstadt. Ein Ziel hatte ich mir in Taipeh gesetzt, das Rapha Clubhouse im Zentrum der Stadt.
Ich erreichte Taipeh noch im Hellen, gönnte mir einen Kaffee im Clubhouse und hatte ein Gespräch mit den Leuten dort, bevor ich mir im Anschluss um die Ecke ein Hotel nahm. Dieser Tag hat mich wieder in meine gewohnte Spur gebracht – und in echte Vorfreude auf das, was noch kommt.


Noch ein paar Gedanken zu dieser Etappe – zwischen Taichung und Taipeh zeigt Taiwan noch einmal seine Gegensätze: dichte Städte, lauter Verkehr, Roller-Chaos – und nur wenige Kilometer weiter stille Berge, klare Luft und Straßen, die sich wie selbstverständlich in die Landschaft legen. Es ist eine Etappe, die zeigt, wie dicht in Taiwan das Lebendige und das Ruhige beieinander liegen. Genau das macht für mich den Reiz dieser Insel aus. Man braucht manchmal nur ein paar Kilometer, bis sich die Geräusche der Stadt in den Hintergrund legen und die ruhige Landschaft wieder übernimmt.
Route Tag 5: Taichung bis Taipeh / 166km – 1.350 hm


Tag 6: Taipeh to Hualien: die Königsetappe
Der Tag beginnt wie immer. Früh raus, ein ausgiebiges Frühstück, die Planung der heutigen Route und dann los. Rund 200 Kilometer und gut 2.000 Höhenmeter liegen vor mir – die längste und forderndste Etappe der gesamten Tour. Also los, raus aus Taipeh, bevor der Verkehr erwacht. Das klappte erstaunlich gut, und bis kurz vor Keelung konnte ich richtig Tempo machen. Dann drehte die Strecke erstmals wieder auf Süden und Südosten.
Ab Kilometer 20 begann der erste, zehn Kilometer lange Anstieg – und mit ihm kam auch der Regen, das erste Mal seit ich unterwegs war. Bisher wurde ich eigentlich ständig von Sonne verwöhnt. Der Wind lässt dafür endlich nach, was sich fast wie ein Geschenk anfühlt. Es wurde merklich kühler, die Regenjacke kam zum Einsatz, und ich dachte kurz darüber nach, das die Entscheidung beim Rucksack packen „Unterwäsche raus, Regenjacke rein“ wirklich clever war 🙂 Oben in den Wolken herrschten vielleicht 10 Grad, es war nass, grau und zugig. Ein Tunnel wurde da beinahe zur kleinen Freude. Denn dort war es trocken, warm und still. Die darauf folgende Abfahrt war noch kühl, aber je weiter ich in Richtung Meer kam, umso wärmer wurde es wieder.


In Fulong legte ich den ersten richtigen Stopp ein. Der Strand erschien plötzlich wie aus einer anderen Welt – weit, hell, ruhig, perfekt geschwungene Bucht, farblich wie Gold. Ein Ort, an dem man ohne Weiteres den ganzen Tag verbringen könnte. Aber heute ging es weiter für mich – die Ostküste ruft.
Fulong Beach – etwas Wissenswertes dazu
Fulong Beach liegt an der Nordostküste Taiwans, in der Nähe des Ortes Gongliao, und gehört zu den bekanntesten Stränden des Landes. Trotzdem wirkt er – gerade unter der Woche – erstaunlich ruhig und weitläufig. Was den Strand besonders macht, ist seine goldene Sandbucht, die sich über mehrere Kilometer zieht. Der Fluss Shuangxi teilt den Strand in zwei Hälften, wodurch eine fast lagunenartige Atmosphäre entsteht. Man sagte mir, je nach Jahreszeit und Wasserstand verändert sich der Strand sichtbar, was ihn noch lebendiger wirken lässt – kein statischer Ort, sondern ein Stück Küste, das ständig in Bewegung ist.

Fulong ist auch bekannt für das jährlich stattfindende Sand Sculpture Festival, bei dem Künstler aus aller Welt riesige Sandskulpturen bauen. Außerhalb dieser Zeit wirkt der Strand dagegen wieder rau, schlicht und natürlich – perfekt für jemanden, der mehr Weite als Trubel sucht.
Für Radfahrer ist Fulong zudem ein kleiner Fixpunkt. Es liegt strategisch genau dort, wo die Route von den Bergen wieder die Küste berührt. Man kommt aus kalten Höhen und steht auf einmal vor einem offenen, hellen, warmen Raum. Ein idealer Ort für eine Pause, einen Kaffee oder einfach einen ruhigen Blick aufs Meer.
Die Mischung aus goldenem Sand, heller Brandung und den steilen grünen Berghängen im Hintergrund macht Fulong zu einem der fotogensten Küstenabschnitte Taiwans, soviel ist sicher.


Kurz nach Fulong führte mich die Route in Richtung Shicheng Village – und damit direkt in den alten Caoling-Tunnel. Einst Teil der Eisenbahnstrecke, die hier die Berge durchbohrte, ist er heute ein Radweg, der Geschichte, Technik und Natur auf engem Raum vereint. Zwei Kilometer Dunkelheit. Beleuchtet von sanften Lampen, eng an die Felsen geklebt. Tropfendes Wasser von der Decke, die kühle Luft, die historische Atmosphäre. Man fährt hier nicht nur durch einen Tunnel, sondern durch ein Stück taiwanesische Ingenieurskunst und Vergangenheit. Der Ausgang in Shicheng öffnete sich wie ein Fenster in eine andere Welt. Kleine Stein-Dörfer, grüne Hügel und die Erinnerung daran, dass diese Insel voller Überraschungen steckt, gerade wenn man sich abseits der Hauptstraßen bewegt.



Bis Kilometer 120 blieb die Strecke danach noch relativ ruhig, abgesehen von einem Platten – der einzige der gesamten Reise, der aber auch gleich den kompletten Mantel zerstörte und mich daran erinnerte, warum Ersatzmaterial so wichtig ist. Ich habe immer auf langen Touren einen Ersatzmantel dabei. Dafür verzichte ich eben auch mal auf andere Sachen. Später, in Sudong Village, kaufte ich vorsorglich einen weiteren Schlauch, nur für das beruhigte Gefühl. In den Bergen entspannt das ungemein. Dort vor dem Giant-Shop traf ich zwei Radreisende aus den USA. Die beiden fuhren Single-Speed-Räder und wollten wie ich, nun über die Berge nach Hualien. Mein Respekt – Ich wünsche Ihnen noch eine gute Reise, musste dann aber davon ziehen. Mein erklärtes Ziel für diesen Tag war immer noch Hualien. Ich wollte heute ankommen und in meinem, gewohnten Bett schlafen.


Und dann kam der für mich abenteuerlichste Teil der Tour. Schon beim ersten Anstieg hatte ich es mich gewundert, warum mir Rollerfahrer entgegenkamen, mit Daumen hoch, ein kurzes „Bravo!“ rufend. Mittlerweile weiß ich, das hier immer irgendwas faul ist, wenn das passiert. Da wartet etwas auf dich – in dem Fall der Suhua Highway zwischen Su’ao und Nan’ao. Ein rund 25 Kilometer langer Abschnitt und tatsächlich der berüchtigtste Abschnitt der gesamten Route. Schmale Straßen, fragiler Belag, lose Steine am Rand, die kurz vorher von oben nach unten gefallen sind. Kein Platz, um anzuhalten. Dazu schwerer Verkehr, vor allem Trucks, die mit einem Druck vorbeiziehen, der dir direkt in den Brustkorb fährt. Ich erinnere mich an einen Tunnel, mehr ein schwarzes Loch in das ich hinein fuhr, nur einspurig befahrbar. Der Regen gab dem Moment noch eine apokalyptische Stimmung. Das Wasser floss rechts und links von den Wänden, die Straße gefühlt 3 oder 4 Meter breit, hinter dir das gewaltige Dröhnen der LKWs, der Schall drückte wie eine Welle von hinten. In dem Moment dachte ich mir, das hier ist die pure Hölle! Aber – “don’t be afraid of taiwan ha!” 🙂 Spaß beiseite – die offiziellen Tourenguides lassen dieses Stück aus und befahren diesen Teil erst gar nicht.

Und trotzdem ist es einer der spektakulärsten Straßenabschnitte, die ich je gefahren bin. Von unten gesehen wirkt die Straße wie ein Wunderwerk, eine Linie, die eigentlich nicht existieren dürfte. Hier eine Trasse zu bauen, ist Wahnsinn – und genau deshalb sehr beeindruckend. Der Blick auf den Pazifik, die Steilwände, die Kurven, die direkt in die Felsen gehauen sind. Ein Wechselspiel aus Faszination und Respekt. Für mich war es die Schöne und das Biest in einem einzigen Straßenabschnitt.

Danach folgten etwa 50 Kilometer, die noch einmal alles zeigten, was diese Tour so besonders machte. Auf und Ab, steile Spitzen, immer neue Blicke in Richtung Taroko Nationalpark. Wunderschöne Landschaft, die auch immer offener und weiter wurde in Richtung Meer, während die Beine langsam schwer wurden. Aber genau so muss eine Königsetappe sein. Nicht nur lang, nicht nur hart, sondern voller Momente, die einen sprachlos machen.

Als ich in Xiulin ankam, war es bereits dunkel. Und plötzlich war er da. Der Rückenwind. Und wieder sichere Radspuren. Noch etwa 25 Kilometer bis Hualien – der Stadt, in der diese Reise begonnen hat. Exakt um 7 Uhr rollte ich ein, müde, glücklich, voll mit Eindrücken. Ein Kreis schloss sich. Und passender als mit dieser Etappe hätte ich die Taiwan Umrundung nicht beenden können.
Finale Route Tag 6: Taipeh bis Hualien / 218 km – 2.094 hm




